Kinderrechte ins Grundgesetz

Kinderrechte ins Grundgesetz? Das klingt erstmal gut. Nach einem Schutz für die Schutzlosen, nach großer Unterstützung für die Kleinen, nach einem Bekenntnis zu den besonderen Bedürfnissen von Heranwachsenden und ihrer rechtlichen Durchsetzungsfähigkeit. Ist es also eine gute Nachricht, dass sich Union und SPD nach langem Hin und Her darauf geeinigt haben, die Rechte der Kinder in die Verfassung aufzunehmen? Im Prinzip ja, im Konkreten nein. In einem zentralen Punkt nämlich bedeutet die nun vorgeschlagene Ergänzung des Grundgesetzartikels 6 nicht etwa eine Stärkung der Kinder und ihrer Rechte, sondern eine Schwächung.

Im Regierungsentwurf heißt es: „Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigten“. Klingt schon wieder gut, ist es aber nicht, vor allem nicht das Wörtchen „angemessen“. Der Begriff ist wie Kaugummi. Knautscht man lange genug darauf herum, ist er in so gut wie jede Form zu bringen. Man kann ihn aufblasen und groß machen, man kann ihn aber genauso gut in der hintersten Backentasche ablagern. Welche Rolle das Kindeswohl nach der Grundgesetzänderung tatsächlich für „staatliches Handeln“ spielen würde, hinge am Ende davon ab, wie Gerichte, Jugendämter und andere Behörden „angemessen“ definieren. Zugespitzt könnte man sagen: In der geplanten Form öffnet die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz willkürlichen Entscheidungen zulasten der Kinder Tür und Tor.

Gegenüber der alten Rechtslage bedeutet das einen Rückschritt. Bisher nämlich billigen höchstrichterliche Urteile sowie auch Landes- und Bundesgesetze dem Kindeswohl nicht nur „angemessene“ Berücksichtigung zu, sondern „vorrangige“. Eine Gefahr für das Kindeswohl steht also im Zweifel über den Interessen beteiligter Erwachsener.

Wenn zum Beispiel leibliche Eltern ihr einst an eine Pflegefamilie abgegebenes Baby nach Jahren wieder in die eigene Familie zurückholen möchten, kann das legitime und nachvollziehbare Gründe haben. Wenn eine solche Rückführung aber bedeutet, dass das Kind seine wichtigsten Bezugspersonen – die Pflegeeltern – und die ihm vertraute Umgebung verliert, kann ein solcher Beziehungsabbruch das Kindeswohl massiv gefährden. An der Stelle wird deutlich, zu welch unterschiedlichen Konsequenzen die Rechtsbegriffe „vorrangig“ und „angemessen“ führen können. Hat das Kindeswohl Vorrang, muss der Wunsch der leiblichen Eltern nach Rückführung zurückstehen, damit das Kind seine in den letzten Jahren aufgebauten und gelebten Beziehungen weiterleben kann. Ist das Kindeswohl lediglich angemessen zu berücksichtigen, gerät das Kind in Konkurrenz zu den Interessen und Bedürfnissen der leiblichen Eltern und somit in Gefahr, mehrfache Trennungen zu erleiden. Die leiblichen Eltern wollen ihr Kind zurück, aber das Kind will nicht und klammert sich an Pflege-Mama und -Papa? Egal, wird schon nicht so schlimm, schließlich kommt es ja zu seinen „echten Eltern“ zurück. So steht das dann zwar nicht im Grundgesetz, aber so denken nicht wenige Richterinnen, Richter, Jugendamtsleitungen und andere Entscheidungsträger. Das Wörtchen „angemessen“ würde helfen, das Kindeswohl einfach in der hintersten Backentasche abzulegen.

Ein weiteres Beispiel: In Nordrhein-Westfalen wurde ein 10-jähriges Mädchen von seiner Mutter, bei der es aufwuchs, getrennt und in ein Heim gebracht, weil das Mädchen den Kontakt zu seinem Vater ablehnte. Sie lebt aus diesem Grund allein im Heim, obwohl sie eine gut für sie sorgende Mutter hat, bei der sie leben möchte. Den Kontakt zum Vater verweigert sie weiterhin. Wenn man ihr Wohl bei der Entscheidung „angemessen“ berücksichtigt, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Wohl angemessen berücksichtigt ist, schließlich wird sie im Heim gut versorgt. Berücksichtigt man ihr Wohl bei der Entscheidung aber „vorrangig“, erhalten die Interessen des Kindes eine stärkere Position bei der Entscheidung, ob es zu seiner Mutter zurückgehen kann.

Es gibt aber auch ganz alltägliche Beispiele, bei denen der Unterschied zwischen „angemessen“ und „vorrangig“ deutlich wird: Bei städteplanerischen, klimapolitischen und verkehrspolitischen Entscheidungen, bei der Teilhabe an Wohlstand und Bildung, bei Beteiligungsrechten in der Schule u.v.m.

Schon in der UN-Kinderrechtskonvention, welche die Bundesrepublik Deutschland 1992 ratifiziert hat, heißt es in Artikel 3 Absatz 1: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Die UN-Kinderrechtskonvention hat in Deutschland die Geltung eines Bundesgesetzes. Da stellt sich die Frage, warum das Grundgesetz hinter der UN-Kinderrechtskonvention zurückbleiben soll.

Vor diesem Hintergrund fordern der Deutsche Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk, Unicef Deutschland und die Deutsche Liga für das Kind in einem Offenen Brief an die Bundesregierung einhellig, die Vorrangstellung des Kindeswohls ausdrücklich in Artikel 6 aufzunehmen und damit dem Begriff „angemessen“ die angemessene Behandlung zukommen zu lassen: Ihn einfach zu streichen. Auch Linkspartei, Grüne und selbst die Regierungspartei SPD möchte das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt wissen. Da Grundgesetzänderungen im Bundestag und Bundesrat nur mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen werden können, ist man auf die Unterstützung von Landesregierungen mit roter und/oder grüner Beteiligung angewiesen. So könnte aus dem „angemessen“ doch noch „vorrangig“ werden. Und damit, was gut klingt, auch gut werden.

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Weitere Informationen zum Thema finden Sie auch in der Stellungnahme vom Deutschen Anwaltverein.

Sozietät Marquardt Wilhelm Ivanits, Berlin
Februar 2021